Hanna Sukare Staubzunge

Das Buch „Staubzunge“ von Hanna Sukare überreichte mir ein lieber Freund und Hospiz-Kollege, der dem Tod von Berufs wegen sehr nahe steht, bei der Verabschiedung meines Vaters in der Aufbahrungshalle. Er hatte das Geschenk schon mehrfach angekündigt, weil ein Teil des Buches in Bad Ischl spielt. Der Zeitpunkt der Überreichung hätte aber nicht besser stattfinden können. Erschöpft von den Zeremonien am Abend zurückgekehrt, blieb ich beim Auspacken fasziniert am Klappentext hängen: „Hinterbliebene verharren eine Zeitlang wie Bäume. Sie vertauen sich Jahreszeiten an, der Hitze, Niederschlägen, dem Reif. Sie schauen in Zerstobenes, warten. Was entsteht? Ein Ring, der Alter anzeigt.“

Das Buch handelt von zwei Kindern eines strengen evangelisch-freikirchlichen Pastors und seiner nicht weniger erbarmungslosen polnischen Frau, die im Krieg nach Bad Ischl fliehen konnte. Als Erwachsene sind die Kinder emotional gezeichnet, die Tochter begiebt sich auf die Spurensuche der Mutter, um ihre eigene Identität zu finden. So landet sie auch in Bad Ischl und ist verblüfft bei der Recherche über die „Schattenjahre“ hier weder etwas im Stadtmuseum noch in anderen Dokumentationsarchiven zu erfahren. „Die Erinnerung an die Zeit zwischen den Republiken verlagert Ischl nach Ebensee. In Bad Ischl verweist das Wort Stollen nicht wie in Ebensee auf ein ehemaliges Bergwerk mit Zwangsarbeitern. Ischler Stollen bereiten Konditoren mit Schokolade zu. Bad Ischl bleibt Sommerfrische, bleibt Trachtenstadt, bleibt Kurstadt, bleibt Kaiserstadt.“

Dieses bemerkenswerte Buch mit absoluter Sogwirkung ist ein Roman und kein  Tatsachenbericht. Und doch hat man das Gefühl mitten in den Biografien der Protagonisten zu wandeln, gefangen von einer sprachlichen Brillianz, die es versteht, Poesie in nie gelesenen Sätzen zu verdichten. Es ist ein Buch wie eine Reise, das einen mitnimmt, um neue Gegenden zu entdecken. Auch in sich selbst. Wer nach dem Lesen zurückkommt, wird ein Stück ein anderer sein.

  • Tipp: Hanna Sukare „Staubzunge“, Otto Müller Verlag 2015, 166 Seiten.