Marion Wisinger

„Ein ganz normaler Ort oder doch nicht?“ schrieb Marion Wisinger nach dem Interview in mein Exemplar ihres Buches. Normal hab ich Goisern nie erlebt. Aber faszinierend und irgendwo auch mit einer geheimen Anziehungskraft. Das ist ein Ort, der sich nicht von vornherein erschließt, sondern der entdeckt und erobert werden will. Doch dann findet man an den unterschiedlichsten Ecken kleine Schätze oder Offenbarungen. Dazu ein kerniger, beinahe rebellischer Dialekt. Ich denke in Goisern braucht es minimum 5 Generationen, um nur annähernd dazuzugehören, angehört wird man aber schnell einmal, wenn man die rechte Offenheit mitbringt.

Mag sein, dass es eine systemische Achse von Goisern zur Familie meiner Großmutter gibt, die mein Großvater als Siebenbürger Sachsin in Rumänien kennenlernte. Er war am Weg nach Brasilien und ist der Liebe Wegen in Hermannstadt hängen geblieben. Kurz vor seinem Tod erwähnte mein Vater in einem Nebensatz, dass er erst vor wenigen Wochen draufgekommen sei, dass seine Familie eigentlich aus Goisern stammt. Dies nachzurecherchieren muss ich mich erst auf den Weg machen.

Die Familiengeschichte von Marion Wisinger, die auch facettenweise erzählt wird, wäre ein eigenes Buch wert: Großvater Leopold hängte 1921 den Bäckergehilfenberuf im Betrieb seines Vaters an den Nagel und schloss sich einer internationalen Operetten-Kompanie als Sänger an. In Southhampton wurde eingeschifft, drei Jahre war er mit dem Ensemble in der ganzen Welt unterwegs. Im Gepäck die Melodien von Strauß, Lehár und Offenbach. In Surabaya (Indonesien) ging er von Board und eröffnete eine kleine Brotfabrik und verkaufte auf den Märkten frische Krapfen mit Bananen-, Vanillecreme oder Apfelmusfüllung. Besonders beliebt waren die Wägelchen mit Backblechen des „Oostenrijkers“, auf denen er auch Brioche-Kipferln mit Hagelzucker aus seiner „Wiener bakkerij“ verkaufte.

Über ihre eigene Familiengeschichte hinaus hat Wisinger wochenlang im Gemeindearchiv gelesen und die Ortsgeschichte Stück für Stück weiterentwickelt. Nach zahlreichen Interviews von Dasigen und Dokumentensichtungen in weiteren Archiven lagen mehr als 1.000 Seiten Material auf ihrem Schreibtisch. Daraus entspann sie keine klassische Chronik, sondern Erzählungen, die Goisern in den Jahren 1900 bis 1950 formten: über Persönlichkeiten, die den Ort prägten, Brauchtum, das bis heute lebt. Fortschritssverweigerer, Naturkatastrophe, die Gründung des Arbeiter-Bildungsvereines, politische Gesinnungen, Freizeitkultur und Fremdenverein und nicht zuletzt die beiden Weltkriege und die Zeit nach 1945. Im Gemeindearchiv fehlen die Ordner aus den Jahren 1939 – 1945. Die gelernte Historikerin wusste, wo sie suchen und mit wem sie sprechen musste, feinsinnig und mit dem rechten Gespür. „Bin ich im Ort“, schreibt Wisinger im Vorwort „fallen mir Geschichten zu. Nichts ist ohne Belang.“

Vielleicht wollte ich einer Sehnsucht Ausdruck verleihen, vielleicht, um von dem Ort eines Tages Abschied nehmen zu können

heißt es wenige Zeilen vorher über die Idee, dieses Buch über Goisern zu schreiben. Der Abschied wird nicht mehr gelingen. Nach dem absolut verdienten Erfolg, ist Wisinger selbst respektabler Teil der Ortsgeschichte geworden. Wer sich so nahe kommt bleibt unauflöslich miteinander verbunden.

Buchtipp

Marion Wisinger: Goisern. Eine erzählte Ortsgeschichte. Verlag Kremayr & Scheriau, 207 Seiten, € 26,00

Foto: Erich Weidinger/Atterbuch