Blick auf den Attersee

Ich hab, als ich dieses Buch fertig gelesen hatte, noch einmal von vorne angefangen. Zuerst etwas zögerlich, um doch alle Figuren und Brüche parat zu haben und die feinsinnig aneinander gereihten Geschichten noch einmal aufzufädeln, wie ein Kind Perlen auf einer Schnur. Doch schon war ich wieder gefangen, nicht im Sog des ersten Durchgangs, aber so, als würde man einer lose verbundenen Familie wiederbegegnen. Fast wünscht man sich da und dort einen Millimeter an den Stellschrauben des Lebens zu drehen, um den Lauf der Dinge zu verändern. 

Es ist schon ein gewaltiges Stück Literatur, das Birgit Müller-Wieland hier vorgelegt hat. Mit allen mittleren Katastrophen, die in jeder Biografie enthalten sind. Aber auch mit den großen Themen, bei denen man froh ist, nicht selber dabei gewesen zu sein. Eine facettenreiche Mischung aus Macht und Missbrauch, die in ihrer sprachlichen Gewandtheit in Atem hält und deren Dynamik es dem Leser nicht erlaubt, reiner Betrachter zu bleiben. Als würde man selbst mit der einen oder anderen Entscheidung ringen. Die große Qualität dabei ist, dass Müller-Wielands Figuren nicht eindimensional auf ein Klischee festgelegt sind, sondern es in fast allem Gutes und Schlechtes zu entdecken gibt. Das gibt Raum für Hoffnung, dass selbst tiefe Wundern irgendwann einmal verheilen können. 

Das kleine Salzkammergut hat schon viele große Autoren hervorgebracht. Müller-Wieland ist zweifelsohne eine davon. Sie ist am Attersee und im Ausseerland aufgewachsen. Ersterer hat völlig überraschend beim Lesen auch Eingang in das Buch gefunden

„Auf der anderen Seite des Sees, sagte Hannes, lebe ein Fischer, der Dichter sei. Oder umgekehrt. Und ein anderer, der eine Buchhandlung führe, habe die Geschichte von Adhara ausgegraben, der Nixe, die den Menschen dieser Gegend in uralten Zeiten Gold, Silber und Edelsteine schenkte.“

Man kann dem Bundeskanzleramt nur danken, dass Projektstipendien vergeben werden, die mithelfen, Autorenexistenzen zumindest über einen bestimmten Zeitraum abzusichern. Ihm ist auch dieses wunderbare Buch zu verdanken. Am 10. Oktober 2021 ist Birgit Müller-Wieland in Iher Heimat zu Gast: gemeinsam mit Rudolf Habringer und Brita Steinwendtner im Aichergut in Seewalchen.

Birgit Müller-Wieland | Vom Lügen und vom Träumen

Buchtipp: Birgit Müller-Wieland – „Vom Lügen und vom Träumen. Roman in sechs Geschichten“, Otto Müller Verlag, 292 Seiten, € 22,0

PS: Als ich vor gefühlten hundert Jahren Robert Schneider anlässlich der Verleihung eines Preises der Salzburger Festspiele zu seinem Buch „Schlafes Bruder“ interviewen durfte, erzählte er mir, dass er mehr als zehn Jahre als Autor von Stipendien gelebt habe, ohne auch nur eine Zeile zwischen zwei Buchdeckeln publiziert haben zu können.